Sonntag, 13. September 2009

Von der Gleichzeitigkeit

Es heißt wir Europäer haben Uhren, aber keine Zeit. Mittlerweile aber gilt unsere erfundene Weltzeit für die nahezu ganze Welt. Eine ziemlich unausgereifte Erfindung im Grunde, denn warum gibt es nicht wenigstens für Wochen, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden ein metrisches System? Wer steht nicht oft im Kino und fragt sich wieviel 195 Minuten jetzt in Stunden sind oder was es bei der Abrechnung bedeuet, dass er 160 Stunden gearbeitet hat?
Foto S. 15: fdecomite, „Tunnels of Time“, CC-Lizenz (BY 2.0)
http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de
Quelle: www.piqs.d
Trotz der Unausgereiftheit tickt unsere Weltzeit mit einer Stunde Verspätung von Land zu Land – von Berlin nach Madrid, von den Welthandelszentren in New York, von L.A. und den Traumfabriken nach Tokio, Peking, Moskau. Ein Exportschlager. Welche Städte wir auch immer heranziehen wollen, die Landmassen, Bevölkerungsmassen und deren Bewegungen werden in unseren Zeiten gemessen.
Letztlich rollt vom Nordpol die Welle der Zeit bis zum Mond hinauf und ufert ins All. Der Taigonaut, Astronaut und Kosmonaut, Piloten, Passagiere, Terroristen, Sicherheitspersonal, Kassierer, Perückenfabrikanten, Näherinnen, Dorffischer, Schweizer Uhrmacher, Kaufhausmanager, Hilfsbuchhalter, bis hin zu den Landpomeranzen, sie alle sind synchronisiert auf genau eine Weltwartezeit. Die Rhythmen der Welt wurden zu den Rhythmen unseres Weltwartens umgeschrieben - eine große Erfindung in unserer Zeit – zum Warten auf die bessere Zeit. Einer bleibt lange wach, weil heute doch noch etwas passieren soll, schaut auf seine Uhren in dieser Zeit.
War früher die Welt in ein Kontinuum der ewigen Gleichheit gestellt, so haben wir unsere Uhren nun auf eine mögliche bessere Zukunft umgestellt. Die Uhr machte vieles effizienter, berechenbarer. Nachrichten in ihre Zeit gestellt.
Hast du schon von der guten Nachricht gehört? "Wir sind gerettet" hieß es bei Jesus noch. Nun aber steht mit jeder Sekunde eine neue Nachricht ins Haus. Und hier hat das Internet die Zeiten wie ein Puzzle zusammengefügt und synchronisiert noch stärker dass Puppentheater der Welt.
Das große Nervengeflecht der Welt produziert den Zeitenstoff in seinen Organen. Mit dem Internet wird vor allem nun das eigene Leben als Information in Übereinstimmung mit der Weltwartezeit gebracht. Das heißt: Wer wirklich lebt, lebt berichtenswert. Twittert die Nachricht über die eigene Zeit, leerer als Botschaften über das Wetter. Und so regiert der Rhythmus des Internets auf allen 0 Kontinenten des Internets in 0-Zeit in Gleichzeitigkeit. Es ist die Nachricht über die verstrichene Zeit des Individuums und erschreckender als jeder Anschlag auf die Alltäglichkeit. Ach, nein ich kritisiere es nicht, ich beobachte nur ein äußerst interessantes Phänomen: Wenn ich morgens um 5 Online bin, gehen meine Freunde in Taiwan und Hong Kong Online und posten auf Facebook, zu anderen Zeiten Freunde aus Amerika.
An den sich verschiebenden Nachrichtenplatten in eiserner Tektonik, tickt die Zeit sellbst. Sie explodiert an sich selbst, mit der Zeit kommt die Gleichzeitigkeit und nur um über ihr eigenes Verstreichen zu informieren. Der Bauplan unserer Jetzt-Zeit orientiert sich dabei zunehmend an diesen "sozialen" Informationen über die Jetztpunkte, das ausdehnungslose Etwas. Das letzte, was wir niemals besitzen können und dem wir immer nur als Nichts begegnen werden, tickt in uns mit uns - mit jeder Nachricht. Im Moment flieht nun unaufhörlich der Kontinent zum Kontinent, die Mondphase in ihre Mondphase, das Wetter zum Wetter, mein Leben zum Leben, die Nachricht zur Nachricht. Was ich hier jetzt tue, ist nun auch jetzt in Asien, Australien oder Amerika, doch der Moment selbst wird nicht mehr in die Geschichtsbücher geschrieben, sondern verwandelt sich in die Lebensgefühle seiner Landzeitstreicher als Jetzt. Vielleicht wird irgendwann in einem Moment, im Internet das gesamte Universum auf einmal gedacht. Dann ist jeder Ort der Welt gleichzeitig und Welt überhaupt erst gegenwärtig. Verrückte Gedanken.
Wir Kurzzeitdenker sind Langzeitinformierer. Wo sonst die Zeitlosigkeit war hat die Zeit im Internet uns nun als stete Veränderung auf Lebenszeit gesetzt. Aber hier hat sich wieder der Faden des Phänomen verloren: Was also ist diese neue Synchronität in unserem Verhältnis zu den Berichten über unser Leben?

Keine Räume mehr

Die vulgäre Welt hat unter ihrer Expansion mit Sicherheit gelitten. Doch der Raubbau an der Welt ist nur die Hinterlassenschaft einer Entdeckerleidenschaft, die im Nachhinein mit einem besseren Leben für die Entdecker ihre Gänge in die Unmöglichkeit rechtfertigt. Wohin aber gehen, wenn überall schon Fußstapfen zu finden sind. Einer kann nicht mehr gehen ohne in den Räumen in die Fußstapfen eines anderen zu treten. Nun aber werden die Räume in anderen Bereichen als dem Raum selbst entfaltet. Wir entfalten die verschiedensten Karten: Genom, Elementarteilchen und Virtualität. Die Virtualität enthebt den Raum seiner Bedeutung. Dort wo der Raum nicht mehr durch Zeiten getrennt ist, dort wird er selbst unerheblich. Mit uneinholbaren Geschwindigkeiten werden Ereignisräume aneinander geschoben und in sich selbst gekrümmt. Eine Kartografie ist hierin selbst als unmögliche Karte einbegriffen und unbegreiflich. Die Informationsdichte beugt sich zurück in die Unmöglichkeit. Die Endlichkeit des menschlichen Schaffens rückt in das Licht einer Unbegreifbarkeit, die Welt strukturell zwar entschlüsselt aber insgesamt als großes Geheimnis kopiert. Klar, eine Idee wird nicht mehr mit der Schneckpost verbreitet, sondern in 0 Geschwindigkeit in den 0 Raum entlassen. Die Gegenwart ist gegenwärtig geworden und schrumpft sich auf das Jetzt zusammen. Jedoch nicht für uns. Welcher Geometrie gehören wir damit noch an? Der sich ausmessende Mensch kann sich nicht mehr mit dem Wissen messen. Er steht in seiner eigenen Geschichte als Verwalter und nicht mehr als Entdecker zur Verfügung. Das Wissen greift den Menschen als bisherigen Menschen an, der wieder einmal nur Objekt seiner eigenen Subjektivität ist.]

Von der Phantasie zur Realität

Die technische Hand greift durch virtuelle Landschaften bis hinunter zu ihren menschlichen Bausteinen. Mit der Idee und ihrer Phantasie kratzen wir an der Biologie des Menschen. Die Virtualität soll wenn möglich alle Räume übernehmen. Gleichheit für alle in einer vollständig manipulierbaren Welt. Der Mensch soll mit flinken Fingern nicht mehr nur seine Umwelt umstrukturieren, sondern geht bis in die Ungründe seiner Menschlichkeit.

Es heißt die geheimen Urteile der gemeinen Vernunft [Kant] geben zwar diesen Menschen immer schon sich selbst vor. Doch die Geheimnisse werden nun mit allen Stemmeisen herausgebrochen. Nicht dass Menschen schon hinter ihre eigenen Schatten gelangt wären, doch ein Umweg scheint sich in der Möglichkeit zu zeigen, den Menschen selbst zu verändern. Dabei übernehmen auch wir nur eine Logik, die wir selbst nicht vollständig durchdringen können. Eine Logik der Veränderung der Logik. Einer liest sich selbst aus, ist jedoch immer nur eine Schrifttafel mit unentzifferbaren Zeichen. Wir sind die Verschlüsselung ohne Hintergrund, eine Fläche ohne Inhalt und ein Inhalt ohne Form, ein Kreisbewegung ohne Zentrum, ein Zentrum ohne Bewegung. Das Geheimnis, das wir sind, entzaubert sich als ein noch größeres Geheimnis: Der Horizont, der seine Mitte trägt und die Mitte, die ihren Horizont trägt, verschieben sich zu einem noch größeren Horizont und zu einer noch unschärferen Mitte.
Es gibt noch andere Horizonte vor den durchgreifenden Veränderungen: Du hast die Geheimnisse gestohlen als du auf deine Sofafalte fielst und das Denken an die Welt zurückgegeben hast. Dabei bist auch du in der Mitte deiner Evolution, der Horizontverschiebung, den violetten Himmeln, ein Mitwisser, eine Bruchstelle der Zeit, ein Insider ohne Ausstiegsmöglichkeit. Dein Bewusstsein soll die Welt ein für alle male durchdringen und in seiner Oberflächenstruktur zersetzen.
Die Welt zerfließt an uns in eine Zukunft aus Virtualität, einer Welt, in der jedes Atom nur als Baustein verstanden wird, um eine noch größere Ordnung zu erschaffen. Die instabilen Horizonte sind die Tiefenwirkung des menschlichen Veränderns, damit reicht der Mensch bis in die Abgründe des Menschen selbst, seiner bisherigen Undefinierbarkeit.